Persönlicher Horror

Um zu begreifen, was es heißt Mensch zu sein, müssen wir selbst zum Monster werden

Vampire: Katharsis ist ein Spiel um persönlichen Horror. Kein einfaches Horrorrollenspiel. Es geht um weit mehr als menschliche Urängste, Schrecken, Dunkelheit und Monstren.

Eigentlich geht nur um uns selbst, um das, was wir in uns nicht sehen wollen, wovor wir uns fürchten. Um dem ins Auge zu blicken, diesen dunklen Aspekten Gestalt und Form zu geben, gießen wir es in die Form eines Charakters und erleben in seiner Entwicklung, die ihn immer weg von der Moral schreiten lässt, die düstersten Teile unserer selbst.

 

Das bedeutet, wir müssen unsere Kunstfigur von Beginn an aus Teilen unserer selbst speisen, neben für uns interessanten Themen, die dem Hintergrund Leben einhauchen können, sind es vor allem die schwarzen Flecken unserer Seele, egal ob Neid, Hass, Lust oder was auch immer, die wir vage umrissen kennen, mutmaßen oder erahnen, die Platz finden in der Seele unseres Vampirs, so dass wir sie dort schauen und erleben können und letztlich uns durch den tragischen Fall unseres Charakters auch davon reinwaschen können in der Katharsis.

 

Den schwarzen Flecken unserer Seele, den niederen Instinkten, unserem Es  – die Bestie im Inneren unseres Charakters steht immer die Psyche, das Bewusstsein und die Moral entgegen. Diese ewigen Konflikte sind das Grundthema unseres Spiels.

 

DAS KATHARSIS-KONZEPT

Aristoteles definiert die Tragödie als eine

"Darstellung (mimêsis) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, […] die Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) hervorruft, und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Emotionen bewirkt.”  – Poet. 6, 1449b24-28

 

Das Tragische ist nicht die Lust am Leid. Und auch nicht die freie Wahl zu leiden. Etwas simplifiziert steht am Höhepunkt der Tragödie die Wahl zwischen zwei brachialen Niederlagen. Verliere deine Macht oder deine Liebe, verliere deine Moral oder deine Zukunft. Das Tragische kann die Lösung nur in Tränen finden.

 

Folgt man Aristoteles Tragödienstruktur, dann ist Vampire live potentiell die Vollendung der tragischen Form: Das Hauptziel der Tragödie ist die Katharsis, das Mitfühlen, Mitleiden und Mittrauern des Publikums mit der dargestellten Figur. Allerdings: Niemand kann der Figur näher sein, als der Darsteller selbst, vor allem wenn er die Momente der Katastrophe nicht geprobt hat oder vorab weiß, was passiert. Alle drei Teile des Horrors, Angst, Ekel & Panik haben hier eine starke Wirkung durch ihr Überraschungs- bzw. Ungewissheitsmoment.

 

Im Mittelpunkt stehen die Handlungen, nicht die Figuren selbst. Sie sind konstruiert, damit der Spieler ein möglichst unmittelbares Erlebnis dieser Handlungen und damit der (Spiel)Welt hat. Ob etwas Handlung oder nur heiße Luft ist, erkennt man an den Figuren & der Spielwelt. Wenn nach einer Dynamik alles ist wie vorher, dann war es keine Handlung. Die Handlung ist also im Raum der Spielwelt das bestimmende Motiv.

 

Über die tragische Figur

Die peitschende Motivation – Jede Figur muss von etwas angetrieben sein, unablässig, auf ein, am besten unerreichbares, Ziel zustrebend, so dass sie niemals stillstehen kann. Um das zu unterstützen, hat jede Figur einen unauflösbaren inneren Konflikt. Dieser wird bei einem sogenannten Seelenriss ausgelöst und ermöglicht erst, dass ein Mensch zu einem Vampir gewandelt werden kann. Über die Fähigkeit den Seelenriss herbeizuführen und einen nicht-auflösbaren inneren Konflikt auszulösen, verfügen nur die Ahnen.

 

Der innere Konflikt ist zugleich Wurzel der Niederlage  – denn an dem inneren Konflikt muss die Figur scheitern (Katastrophe).

Der Rahmen: Das große Leid  – die tragische Figur braucht eine Umgebung, in der jede seelische Untiefe heraufbrodeln kann, sie braucht den ”Krieg”, um zu leiden oder seinen Bruder zu foltern.

Genau dieses große Leid wird durch die Camarilla und ihre Ahnen als Umgebung eingegrenzt, Sabbat und Anarchen stellen eine mörderische Ebene dar.

Einen der kritischsten Punkte findet man in dem ”Danach”. Wenn eine Figur die Katastrophe und die Katharsis erlebt hat, sollte die Figur von neuen Brüchen, Feinden und abwegigen Motivationen erfüllt sein und gut ”gewappnet” in eine neue Handlung einsteigen können und sie wird dem Spieler noch ein gutes Stück näher sein.

 

Das Konzept des persönlichen Horrors ermöglicht uns im Zusammenhang mit dem Konzept der Katharsis die Konfrontation mit unseren ganz eigenen Dämonen und seelischen Untiefen. Wir legen die Seiten, die wir an uns hassen und fürchten in pointierter Form in den Charakter und lassen den Charakter im Laufe seiner Entwicklung daran scheitern. Zugleich erfahren wir als Spieler möglicherweise eine Art Reinigung von unseren eigenen Untiefen.